1.Und dann kamst Du

Den Tag an dem der Anruf kam, werde ich nie vergessen - "Wir haben da ein Kind für Sie, dürfen wir vorbei kommen?

Wir haben einen neun Monate alten Jungen, ein Bildhübsches Kind allerdings mit Verdacht auf FASD ( Fetales Alkoholsyndrom - das heißt die leibliche Mutter hat während der Schwangerschaft Alkohol getrunken und in Deinem Fall auch noch harte Drogen konsumiert).

Er lebt seit sieben Monaten in einer Bereitschaftspflegefamilie.

Könnten Sie sich das vorstellen, trauen Sie und Ihrer Familie sich das zu?

Sie gaben uns Bedenkzeit von einer Woche.

Wir besprachen alles auch mit unseren Kindern, erklärten Ihnen was man unter FASD versteht , welche Auswirkungen es haben kann und entschieden gemeinsam uns auf das Abenteuer einzulassen.

Wir teilten dies dem JA mit und eine Woche später hatten wir den ersten kennenlern Termin bei uns zuhause.

Ich besorgte Kindersachen, Spielzeug, Laufstall, bett etc.

Dann war es so weit .

 

Und dann kamst Du , lächelnd im Maxi Cosi , strahltest Du uns an mit Deinen stahlblauen Augen.

Zuerst etwas auf Distanz, dann nahmst du schon mal Tuchfühlung auf.

Du saßt auf meinem Schoß und es war, als ob Du schon immer ein Teil von uns warst. Und am liebsten hätte ich Dich direkt hier behalten.

Wir besprachen alles wie die Anbahnung gestaltet werden sollte und dann starteten wir.

Jeden Tag fuhr ich zu Dir, spielte mit Dir, fütterte Dich , machte alles was eine Mama tut und jeden Tag wurdest Du zutraulicher, freutest Dich wenn ich , oder auch die ganze Familie, kam.

Nach drei harten Wochen, ich war jeden Tag um die 5-6 Std bei Dir, wechselten wir. Die Bereitschaftsmutter kam mit Dir zu uns, damit Du dein neues Zuhause besser kennenlernen konntest.

Und nach nochmal zwei Wochen hast Du ganz klar signalisiert das Du bei uns bleiben möchtest .

 

Am 11.Juni bist Du dann eingezogen, was für eine Aufregung.

Von nun an stelltest Du unser Leben auf den Kopf.

Die ersten Tage waren etwas chaotisch bis wir ein eingespieltes Team waren, dauerte es etwas.

Bereits vier Wochen nach Deinem Einzug konnten wir Deinen ersten Geburtstag feiern . Auch die Bereitschaftsfamilie hatten wir eingeladen und zu dem Zeitpunkt warst Du schon sehr distanziert ihnen gegenüber. Dieses Kapitel schien abgeschlossen für Dich.

Danach fuhren wir das erste Mal mit Dir in den Urlaub, es war tolles Gefühl.

Deine Entwicklung schien in diesen Wochen zu explodieren, du fingst an am Laufwagen zu gehen, sagtest das erste Mal "Mama" zu mir.

Ein toller Moment den ich nie vergessen werde!

Unser Alltag war sehr schön , aber auch sehr stressig durch die vielen Termine. Frühförderung, Ergo , Spielegruppe, Besuchskontakte, Arzttermine etc.

Aber mittlerweile waren wir ein unzertrennbares Team und Du liebtest es auch unendlich mit deinen großen Brüdern zu spielen , zu toben.

 

Aber es gab immer wieder diese Momente in denen man merkte das irgendetwas anders war an Dir.

Heftige Aggressionen , Beißen, Schreien, selbst verletzen.

Alles flog im hohen Bogen egal ob Spielzeug, Essen oder sonstiges . Innerhalb von Sekunden schien Deine Stimmung umzuschwenken und das , ohne für uns , ersichtlichen Grund.Du kannst heiß nicht gut von kalt unterscheiden, dein Schmerzempfinden ist herabgesetzt.

Wie oft hat einer unserer Söhne gejammert weil Du ihm weh getan hast, wie oft hatte ich Bisswunden , wie oft habe ich ein Spielzeugauto gegen den Kopf bekommen , unzählige Haare hast Du mir ausgerissen , wie oft hast Du Dinge absichtlich kaputt gemacht.

Wie oft hast Du Dich selbst verletzt , in dem du mit dem Kopf gegen Wände oder Böden geschlagen, dich selbst gebissen hast. Du auf Fensterbänke oder Möbel geklettert bist . Du testen musstest wie Waschmittel schmeckt und Du es leider immer wieder machen würdest , weil Du nicht in der Lage bist daraus zu lernen.

Mittlerweile ist bei uns alles gesichert, alle Fenstergriffe abschließbar , in jedem Raum ein Rauchmelder.

Es macht mich immer wieder traurig Dich so zu sehen, so zu erleben!

Und zu wissen , das Du gar nichts dafür kannst, sondern Deine leibliche Mutter viel Alkohol in der Schwangerschaft getrunken und Drogen konsumiert hat, macht es nicht einfacher für mich.

 

Ich versuche Dich einfach mit viel Liebe aufzufangen , dich zu schützen , deinen Alltag zu strukturieren, klare Regeln und Grenzen zu setzen .

Dir immer wieder zu zeigen das ich Dich liebe , auch wenn Du gerade schlecht drauf bist und Dich und andere verletzt.

 

Jetzt rückblickend kann ich sagen , das es Monate gibt wo Du sehr ausgeglichen bist. Kein hauen, kein Beißen , nichts.

Und dann ist diese "gute" Phase wieder vorbei und wir starten wieder bei null.

Mittlerweile lebst Du vier Jahre bei uns.

Du hast einen Pflegegrad und einen Schwerbehindertenausweis bekommen .

Seit einem Jahr bekommst Du nun Dipiperon zum schlafen. Es lässt dich nun endlich zur Ruhe kommen und Du kannst damit auch mal durchschlafen. Ohne schafftest du maximal drei Std am Stück und hattest dann Stundenlange Wachphasen .

Du wachst aber auch jetzt noch oft auf, schreist bitterlich weinend nach mir und suchst Körperkontakt.

 

Ich kann Dir nur immer wieder zeigen das ich da bin, das alles gut ist. Mit Dir kuscheln bis Du Dich wieder sicher fühlst.

Was quält Dich Nachts, woran kannst Du Dich erinnern?

Daran wie Du nach der Geburt einen zweimonatigen Entzug machen musstest?

Daran wie Du als Neugeborenes fallen gelassen wurdest?

Daran wie Du "ausversehen" gegen Dein Kinderbett gestoßen bist und am nächsten Morgen Dein Gesicht und Hals voller Hämatome waren?

 

Ich kann nur hoffen das Du es irgendwann vergisst oder lernst mit diesen Erinnerungen zu leben.

Das Du weißt, das Dir so etwas nicht mehr passieren kann!

Du entwickelst Dich super, kannst mittlerweile viele Worte, viele Sätze richtig aussprechen , kannst bis zehn zählen, kennst alle Farben , viele Kinderlieder und sämtliche Automarken. Mittlerweile spürst Du Dich selbst besser, kannst auch Schmerzen äußern und Du kannst auch gut Warm von Kalt unterscheiden.

 

Bestimmte Dinge fallen Dir aber sehr schwer. Du kannst Dich sehr schlecht konzentrieren oder nur für sehr kurze Zeiträume.  Tagsüber schaffst Du es mittlerweile gut ohne Pampers auszukommen. An - und ausziehen ist auch noch sehr schwierig -aber es wird immer besser.

Aber Du hast alle Zeit der Welt und diese geben wir Dir auch!

 

Seit zwei Jahren gehst Du in den Kindergarten in eine Heilpädagogische Gruppe , weil Du mit zu vielen Kindern , zu viel Unruhe total überfordert wärst.

Dich von mir zu trennen , fiel Dir anfangs unheimlich schwer und Du vergewissertest Dich immer wieder ob ich auch wieder komme aber auch das wurde jetzt mit der Zeit besser. Dein Bedürfnis nach Sicherheit ist dennoch wahnsinnig hoch.

Man merkt auch sehr deutlich das mit dem Kindergarten Deine absolute Belastbarkeit erreicht ist. Aktivitäten hinterher enden meistens in unzähligen Wutausbrüchen und Aggressionen.

 

Du liebst es zu baden, zu kneten und am allerliebsten bist Du draußen im Garten , springst Trampolin , spielst Fußball , hilfst mir beim Rasen mähen oder spielst mit Autos.

Bücher lesen oder Spiele zum nachdenken fallen Dir dagegen unheimlich schwer und Du verlierst schon nach ein paar Minuten die Lust daran.

 

Ich bewundere oft meine Familie , insbesondere meine leiblichen Kinder , das sie dies alles mittragen obwohl es oft nicht einfach ist. Ich viel weniger Zeit für sie habe , weil Du permanente Aufmerksamkeit forderst, immer im Mittelpunkt stehen möchtest.

Es gibt Tage an denen ich so geschafft bin von Deinen Stimmungsschwankungen , Deinen Aggressionen , Deiner enormen Lautstärke beim Spielen.

Aber ich habe nie ans Aufgeben gedacht und ich möchte mit Niemanden tauschen.

Dich Lachen und glücklich zu sehen ist das größte Geschenk!

 

Was ich Dir wünsche?!

Ich wünsche Dir , das Du unbeschwert , behütet und geliebt groß werden darfst!

Ich wünsche Dir , das Du lernst mit Deiner Geschichte umzugehen , Dein Erlebtes verarbeiten kannst!

Ich wünsche Dir , das Du immer auf Verständnis und Akzeptanz für Deine Besonderheiten stoßen wirst!

Wir lieben Dich wie Du bist und werden immer für Dich da sein!

Werden Dich behüten , beschützen , Dich fördern , Dich auf Deinem Weg begleiten!

 

In Liebe Mama

 

 

Fortsetzung

 

Mittlerweile lebst Du 4,5 Jahre in unserer Familie und bist fast 5,5 Jahre alt.

Du hast sehr viel gelernt und vieles hat sich zum Positiven verändert.

Du hast „UNO“ spielen gelernt und es macht Dir sehr viel Spaß.

Du hast angefangen gegenständlich zu malen, aber es fällt Dir nach wie vor noch sehr schwer.

Unsere Nächte sind wesentlich ruhiger geworden aber konstant schläfst du immer noch nicht durch.

Du brauchst tagsüber keine Windel mehr und kleine Unfälle passieren nur noch ganz selten.

 

Du bist nun ein Vorschulkind und das bereitet mir große Bauchschmerzen. Was ist richtig und was ist falsch? Ein großes Thema bei uns im Moment.

Dein aktueller IQ Test im SPZ hat mich total umgeworfen und etwas den Boden unter den Füßen weggerissen.

Du kannst dich so schlecht konzentrieren und somit Aufträge nicht verstehen oder richtig ausführen.

 

Du hast Pflegegrad 3 und dein SBA wurde auf 80% und den Merkzeichen G,B und H erhöht.

 

Deine große Verlustangst begleitet uns auch heute noch massiv und auf die Frage wovor Du Angst hast, antwortest Du immer „das Mama nicht kommt“.

Das schmerzt schon etwas, weil ich in den letzten 4,5 Jahren immer da war, immer verlässlich an deiner Seite. Und dennoch fragst du jeden Tag wann ich komme und ob ich komme.

 

Deine Impulskontrolle ist immer noch sehr schwierig und wir haben wieder viele Ausraster mit schreien, hauen , treten.

Du entschuldigst dich immer direkt und oft fragst du mich auch „Mama, warum tue ich dir weh, ich will das dich garnicht?“.

Du kannst in den Momenten einfach nicht anders reagieren, du kannst es nicht kontrollieren aber, ich hoffe, das du auch das noch lernst.

Du hast kein Gefühl für Zeit und dein Kurzzeitgedächtnis funktioniert nicht richtig.

Du kannst nicht wiedergeben was wir gestern gemacht haben, weißt aber Dinge ganz genau die Wochenlang her sind.

Du bist mit vielen Dingen total überfordert und reagierst dann mit stammeln oder totaler Verweigerung.

Du kannst mittlerweile so vieles aber oft willst du einfach nicht und mit dieser Art stehst du dir dann selbst im Weg.

 

Du hast ein unheimlich großes Gefühl für Musik und liebst es zu musizieren oder zu singen. Du spielst Schlagzeug und flötest sehr gerne.

Natürlich ist auch Fußball noch angesagt und nun haben wir auch einen integrativen Verein gefunden und klappt super.

Du liebst es mit mir zu kochen oder zu backen.

 

Ich bin unendlich stolz auf dich, stolz auf jeden einzelnen Fortschritt den du machst, ach wenn es kleine Schritte sind. Aber Du gehst deinen Weg und wir gehen Ihn gemeinsam mit Dir!

 

In Liebe Mama

bis zum Himmel und zurück

 

Update:

mittlerweile bist Du schon 8 Jahre alt, gehst das 3. Jahr in eine Förderschule für geistige Behinderung und machst große Fortschritte.

Du kannst schon lange schwimmen und seit einer Woche auch Fahrrad fahren.

Leider stehst Du Dir oft selbst im Weg, auch aufgrund deiner Angststörung.

Dein Schlafverhalten hat sich nicht viel geändert, die Nächte in denen Du durchschläfst, kann man an zwei Händen abzählen.

Aber, Du erhellst jeden meiner Tage auch wenn wir oft vor großen Herausforderungen stehen.

Durch dich, habe auch ich, viele Dinge gelernt anders zu sehen.

 

In Liebe Mama

bis zum Himmel und zurück

 

 

2.Erfahrungsbericht einer FASD betroffenen erwachsenen Frau und Autorin des Buches

"Ich , das Kind aus der Schnapsflasche"

 

Ich bin am 30.04.1973 geboren.

Meine leibliche Mutter trank in der Schwangerschaft 6-8 Flaschen Schnaps in der Woche.

4-6 Flaschen Bier am Tag und seit 3 Monaten weiß ich ,durch die Jugendamts Akte, das Sie zusätzlich noch täglich eine Flasche Cognak trank.

Ich kam 3 Monate zu früh auf die Welt mit einem Hirnschaden, Herzfehler und vielen anderen gesundheitlichen Einschränkungen.

Das Leben als Kind war nicht einfach denn ich war unterentwickelt,konnte nicht mithalten. Weder mit meinen gleichaltrigen Spielkameraden noch mit den jüngeren im Kindergarten.

Ich habe sehr viel durchgemacht, bin aber in einer sehr guten Pflegefamilie aufgewachsen.

Meinen Pflegeeltern habe ich zu verdanken das ich heute in einer eigenen Wohnung Leben kann. Zwischenmenschlich ist es jedoch sehr schwer für mich.

Zudem bin ich sehr ängstlich und nicht in der Lage arbeiten zu gehen.

 

 

 

3.Erfahrungsbericht einer Pflegemama mit einem heute 6 jährigem FASD Kind

Mein kleiner Sonnenschein

Nach langem Warten haben wir ,kurz vor Weihnachten ,den heißersehnten Anruf bekommen : "Wir haben ein 4 jähriges süßes Mädchen für Sie."

Mussten dann aber noch bis Februar warten bis wir dich im Heim kennengelernt haben .

Du hattest keine Scheu und hast sofort mit uns gespielt und wir waren ab dem Zeitpunkt: „meine Leute" und Du hast dich auf jeden Besuch von uns gefreut .

Nach 3 Wochen durftest du bei uns einziehen. Wir waren sehr glücklich und hatten schon dein Zimmer fertig , natürlich mit vielen Mädchen Sachen.

Du warst von Anfang an sehr lebhaft und zugleich sehr weinerlich , hast nach mir gehauen , getreten und hattest viele Wutausbrüche.

Wir wussten nicht wirklich was los war . Im Freizeitpark Schloss Beck haben wir andere Pflegeeltern kennengelernt die uns sagten das wir dich doch mal auf FAS testen lassen sollten.

Jetzt wissen wir was mit dir los ist und das ist gut so. Nun können wir Dir helfen und ich weiß jetzt warum du noch nicht auf die Toilette gehst, warum du schreist, nach mir trittst und mich schlägst.

Dafür bekommst du jetzt deine Medikamente die dir bei der Konzentration helfen und dafür sorgen das du dich viel besser unter Kontrolle hast, was dir sehr gut hilft und darauf sind wir sehr stolz .

Deine Schlafprobleme haben wir noch nicht im Griff aber das schaffen wir auch noch.

 

Wir lieben dich wie du bist!

 

Deine Mama